Dr. Christoph Haffter

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Dr. Christoph Haffter is post-doctoral researcher at the Reserach Focus Philosophy of Music at University of Basel and Musikhochschule Basel FHNW. He has studied philosophy and musicology at the University of Basel, the Université Paris 8 (Vincennes-St.Denis) and the Humboldt University of Berlin, where he obtained his master's degree in philosophy. He was a member of the eikones Graduate School of the University of Basel, where he received his PhD in Philosophy in 2022. The PhD is entitled "Musikalischer Materialismus. Eine Philosophie der zeitgenössischen Musik" and has been published open-access at Velbrück Wissenschaft in 2023. In 2018, he was Visiting Scholar at Columbia University in New York. From 2019-2022, he was assistant to Prof. Emmanuel Alloa at the Philosophy Department of the University of Fribourg. He was editor of the music journal Dissonance and works as a music critic for magazines and radios. He is co-editor of the online music journal www.partisan-notes.com.

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Eine Philosophie der zeitgenössischen Musik

Christoph Haffter

Velbrück Wissenschaft, 2023.

doi.org/10.5771/9783748915300

 

 

 

 

 

 

Rezensionen:

1) Wolfgang Fuhrmann: Sollte ein Klavierkonzert schlichtweg nicht mehr zu schreiben sein? Wie sich ästhetische Erfahrung überzeugend verteidigen lässt: Christoph Haffter legt eine bestechende Untersuchung zur Kunstmusik der Gegenwart vor.

(Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2.5.2024)

Unter musikalischem Materialismus mag man sich allerlei vorstellen. Der Philosoph Christoph Haffter behandelt jedoch nicht etwa die ökonomischen oder ökologischen Grundlagen der zeitgenössischen Musik. Ihm geht es auch nicht um alles, was heute so erklingt, sondern um das, was man einst mit einer heroischen Majuskel „Neue Musik“ nannte. Die Kunstmusik der Gegenwart, diagnostiziert Haffter, stecke „in einer Krise, weil sie selbst an ihrer eigenen Möglichkeit“ zweifele. Die Pointe des Buchs ist – um das vorwegzunehmen –, dass gerade dieser beharrliche Zweifel ihr eigentlich produktiver Grund ist, gerade die Fragwürdigkeit ihr Daseinsrecht begründet.

Das ist etwas verknappt angesichts einer überaus differenzierten und von stupender Kenntnis sowohl ästhetischer Diskurse als auch musikalischer Phänomene zeugenden Argumentation, die sich zwar zuweilen ins dialektische Heckenlabyrinth zu verlieren scheint, doch den großen Zusammenhang stets im Blick behält. Haffter geht von zwei markanten Positionen aus: einerseits Kants ästhetischem Urteil, andererseits Adornos Begriff des künstlerischen Materials, der ja vor allem an der Musik seiner Zeit entwickelt wurde. Beide finden zusammen im musikalischen Kunstwerk, das aus dem Stand des Materials jene konkrete Fügung entwickelt, über die ästhetisch geurteilt wird.

Haffters Begriff des Materialismus zielt somit auf die Situiertheit auch des Denkens und der Kunst in einer von Ungleichheit und Ausbeutung gezeichneten Gesellschaft, aber auch auf das von diesen gesellschaftlichen Spuren durchsetzte Material der Gegenwartsmusik, die in ihrer Autonomie die „habitualisierten Schemata der Einbildungskraft ins Tanzen“ bringt.

Diesen Voraussetzungen der Argumentation ließe sich eine konservative Tendenz unterstellen: Sind nicht Kunstwerk, Materialfortschritt, ja der Begriff der Kunst in unserer postkonzeptuellen, transmedialen Gegenwart längst fragwürdig geworden, hat nicht die Konzeptkunst in der Musik Autonomie und ästhetische Erfahrung ausgehebelt? Haffter kennt alle diese Argumente, und dennoch gibt die Arbeit keinen Fußbreit Boden preis, wenn es um die Verteidigung ihrer argumentativen Grundpositionen geht.

Diese Verteidigung geschieht schlüssig und dialektisch: So wie bei Kant die ästhetische Lust daraus entsteht, dass die Erfahrung des Kunstwerks nicht auf den Begriff zu bringen ist und doch von den Begriffen umtanzt wird, so wird auch der ästhetische Materialismus von der Permanenz der Selbstbefragung des Materials durch die Form und vice versa geprägt; wechselseitig heben beide ihr Allgemeines (die Abstraktheit der Form, die Gegebenheit des Materials) ins Besondere des Kunstwerks auf, das sich begrifflich nur noch fassen lässt als Antwort auf eine Frage, die es selbst gestellt hat.

Von hier entwickelt Haffter, nochmals ausgehend von Kant, aber dessen Kunstverständnis als allzu bieder kritisierend, mit Friedrich Schlegel ein Verständnis des Kunstwerks als Fragment: Tradition, Gattung, Musiksprache, sie alle sind dahin, sodass noch in der scheinbar in sich geschlossenen materialen Form des Werks das Vorläufige, Fragwürdige, Unrunde und Offene einer derart ihrer selbst unsicher gewordenen Kunst herrscht.

Aus der Totale dieser spekulativen Überlegungen begibt sich die Untersuchung immer wieder in die Nahaufnahme konkreter Werke. Haffter beweist dabei nicht nur eine stupende Kenntnis der aktuellen Produktion, sondern auch hohe musikwissenschaftliche Kompetenz. Die Werke dienen nicht der Demonstration vorgefertigter Thesen, sie werden in ihrer ganz kantianisch von keinem Begriff auszuschöpfenden Autonomie anerkannt; sie stimulieren die Entwicklung von Gedanken, statt diese nur zu exemplifizieren. Diese produktive Pendelbewegung zwischen künstlerischer Konkretion und theoretischer Abstraktion führt zu den anregendsten Passagen des Buchs, etwa im sechsten Kapitel, das drei Modelle gegenwärtigen Komponierens, „Natur“, „Leben“ und „Begriff“, gleichermaßen anschaulich wie scharfsinnig untersucht. Kurzum, Anspruch, Umfang und Niveau dieser – vom Verlag schändlicherweise ohne Korrektorat, Lektorat und Registererstellung zum Druck beförderten – Darstellung sind bestechend.

So beweglich im Begrifflichen Haffters Arbeit nach innen operiert, so intransigent werden indes die Abgrenzungen nach außen getroffen. Nichts könnte richtiger sein als die Feststellung, dass die Gegenwartsmusik „erst vor dem Hintergrund der kulturindustriellen Produktion wirklich verständlich“ werde. Nur scheint die hier vertretene AuNassung von „Kulturindustrie“ über die „Dialektik der Aufklärung“ nicht hinausgekommen zu sein. Dass in der aktuellen Kultursoziologie, etwa bei David Hesmondhalgh, längst im Plural von „Cultural Industries“ gesprochen und auch ein inhaltlich weitaus diNerenzierteres Bild gezeichnet wird, wird ausgeblendet. Zwar nimmt Haffter den heute gängigen Vorwurf des elitären Denkens gegenüber Kritikern der Kulturindustrie durchaus ernst, letztlich bleibt es dann aber doch bei der starren Entgegensetzung von „Kitsch“ und „Kunst“.

Auf der anderen Seite hat aber auch die Parteinahme für die gegenwärtige Kunstmusik dort ihre Grenze, wo diese die bürgerliche Institution Kunst, die Arbeitsteilung zwischen Interpreten und Publikum in der Darbietungsmusik, den alleinigen Fokus auf das Hörbare infrage stellt. Schon an John Cage wird kritisiert, dass er umso seltener überzeugende Werke hervorgebracht habe, „je lauter er die Musikalität aller Klänge proklamierte“. Cages Projekt einer anarchischen Freisetzung von Klängen für die musikalische Wahrnehmung aber mit dem ästhetischen Urteil ausmessen zu wollen erinnert an den Versuch, ein Huhn in einem abstrakten Bild zu suchen. Überspitzt gesagt: Die Kunstmusik darf alles Mögliche infrage stellen, solange es uns nicht aus unserem Konzertsessel holt.

Und schließlich wird „das Primat der Gegenwart“ proklamiert: „Wenn Kunst das ist, was das Bescheidwissen erschüttert, dann ist Musik, die altbekannt klingt, keine Kunst.“ Von Schütz und Bach bis Bartók und Strawinsky ist nun alles „alte Musik“ geworden, an der der Bildungsbürger „die infantile Lust des Wiedererkennens“ erlebt; und vieles an jener Musik sei längst „lächerlich geworden“: „das Pathetische und Pompöse, das Floskelhafte und Schematische, das Weinerliche oder Galante“.

Haffters paradigmatisches Fallbeispiel für die Ortsbestimmung der zeitgenössischen Musik, Simon Steen-Andersens „Piano Concerto“ (2014), gilt denn auch als Beweis, „dass sich ein Klavierkonzert nicht mehr schreiben lässt“. Man könnte aber auch sagen: Dieses Werk bezieht seine Überzeugungskraft gerade daraus, dass es in fast vampirischer Manier von dem „Pathetischen und Pompösen“ des traditionellen Klavierkonzerts zehrt. Dass auch „alte Musik“ die Schemata der Einbildungskraft ins Tanzen bringen kann, diese Erfahrung scheint dem Autor fremd.

Seine Positionen setzen sich der Frage aus, inwiefern solcher Präsentismus, inwiefern „Materialfortschritt“ oder „Kunstautonomie“ nicht auch als Pathologien des digitalisierten Kapitalismus verstanden werden können: als Symptome von Geschichtsvergessenheit, blinder Innovationsgier, Neutralisierung der Kunst zum Konsumobjekt. Haffter entwirft an einer Stelle das Bild eines privilegierten Bürgertums, das im Avantgardekonzert die Möglichkeit gefunden hat, „sich genau darin als politisch aktive, progressive Vorkämpfer der Freiheit zu wähnen, dass sie nicht politisch handeln, also dadurch politisch zu handeln, dass sie sich mit Kunst beschäftigen“. Ganz entkommt diese brillante Arbeit nicht dem Schatten dieses von ihr selbst aufgeworfenen Verdachts.

2) Leon Akermann, Positionen Heft 139, 2/2024

Der ästhetische Materialismus, den Christoph Haffters Studie "Musikalischer Materialismus. Eine Philosophie der zeitgenössischen Musik" entwirft, geht aus von dem scheinbaren Widerspruch seiner beiden Relate: Erstens, einem ästhetischen Denken, das Kunstwerke im Anschluss an Kants Kritik der Urteilskraft wesentlich auf die autonome Denkform des ästhetischen Urteils bezieht, deren Bestimmung das Resultat einer reinen Selbstbestimmung derVernunft ist; und zweitens, einer materialistischen Kritik im Anschluss an Marx, die der Möglichkeit einer solchen Selbstbestimmung die materielle Bedingtheit allen Denkens entgegenhält.

Die Nähe von idealistischem und materialistischem Moment seines philosophischen Entwurfs entdeckt Haffter zum einen darin, dass beide in gleichsam entgegengesetzten Richtungen um die Idee menschlicher Selbstbestimmung gravitieren, zum anderen darin, dass sie beide wesentlich in einer Selbstkritik des bestimmenden Denkens bestehen: »Sie verweisen auf die Fähigkeit des Denkens, über sich selbst hinaus zu denken.« (S. 38) So geht es ihm im Ganzen um eine »kritische Selbstbesinnung des Kunstdenkens« (ebd.), die es unternimmt, das Verhältnis der ästhetischen Eigenregelung der Kunst und ihrer gesellschaftsgeschichtlichen Bedingtheit als eine notwendige Dialektik zu denken.

Dass die Darstellung der grundlegenden philosophischen Konstruktion sich hier mit den gröbsten Zügen begnügen muss, wird erleichtert von der Tatsache, dass die Stärke des Buches allemal woanders liegt. Es mag etwas über den kuriosen Zustand der Musikphilosophie im Allgemeinen sagen, aber es zeichnet Haffters Buch besonders aus, dass darin außerordentlich viel an konkreten Werken gearbeitet wird – und zwar ohne dass diese bloß als illustrierende Staffage einer selbstgenügsamen Argumentation herhalten müssten. So setzt das zweite Kapitel gleichsam einen zweiten Anfang aus der entgegengesetzten Richtung. Es besteht in der ausführlichen Analyse eines einzelnen Werks: Simon Steen-Andersens Piano Concerto von 2014. Aus ihr gewinnt Haffter in detaillierter Versenkung einige Problemansätze, die für die gegenwärtige Kunstmusikproduktion von allgemeiner Bedeutung sind – und auch wer dem Werk in seinem infantilen Anti-Utopismus so ablehnend gegenübersteht wie der Rezensent, kann jedenfalls nicht bestreiten, dass es sich dabei wohl oder übel um ein Schlüsselwerk der letzten zwei Jahrzehnte handelt. In ihrer Allgemeinheit ausgearbeitet werden jene Ansätze im dritten Kapitel »Bedingungen zeitgenössischer Musik«, das zweifelsohne den größten theoretischen Gebrauchswert des Buches bereithält. Es gelingt Haffter darin, den Materialstand der Gegenwart anhand von vier Problemkomplexen überzeugend zu umreißen. Dabei geht es nicht etwa um das abstrakte Dekret positiver Kriterien musikalischer Zeitgenossenschaft, sondern um die Entwicklung von »Problemzusammenhängen, in die sich Musikerinnen und Komponistinnen gegenwärtig begeben, und zwar unabhängig davon, ob sie sich dessen bewusst sind, ob sie es wollen oder nicht.« (S. 103)

Die vier identifizierten Bedingungen seien hier in aller Kürze zusammengefasst: »1. Sprachverlust« – Die unhintergehbare Absenz einer jeden geteilten musikalischen Sprache im Sinne eines über das Einzelwerk hinaus gültigen Regelgefüge; »2. Kulturindustrie« – als allgegenwärtige soziologische Bedingung gegenwärtiger Kunstproduktion. (Die Bedeutung dieses Moments mit der gebotenen Deutlichkeit dargestellt zu haben, ist ein Verdienst, das Haffters Buch vor allen anderen Musikphilosophien der letzten Jahre auszeichnet: »Kein Werk kann heute gelingen, ohne sich irgendwie aus dieser Ubiquität der kulturindustriellen Zwänge herauszuarbeiten. « (S. 164); »3. Elektronischer Klang« – Die Gesamtheit der Möglichkeiten elektronischer Produktion, Reproduktion und Diffusion von Klang und die durch sie ermöglichten kompositorischen Denkweisen; »4. Verschränkung der Künste« – Das Fragwürdigwerden des Verhältnisses der Musik (wie auch aller anderen Künste) als einzelner Gattung zur Kunst sans phrase und die (scheinbare) Auflösung der Medienspezifik. Diese Phänomenkomplexe werden luzide im Zusammenhang der sie begleitenden Kunstdiskurse dargestellt und sowohl mit kompositorischen wie musiktheoretischen Reaktionsweisen bzw. Symptombildungen konfrontiert. Kapitel IV »Die Krise des Werks« und V »Das Werk als Fragment« entwickeln einen Werkbegriff, der seine eigene Krise in sich aufnimmt. Das sechste und letzte Kapitel schließlich begibt sich wieder tiefer in die Konkretion der musikalischen Gegenwart und entwirft anhand der Begriffe »Natur«, »Leben « und »Begriff« drei Denkmodelle, in denen sich einige spezifische Tendenzen gegenwärtiger Komposition (von Spektralismus bis Konzeptualismus) im Lichte jenes ästhetischen Materialismus begreifen lassen.

Was dabei im Einzelnen alles zu kritisieren wäre, berührt kein bisschen, dass besonders das dritte Kapitel gewissermaßen den Kanon gegenwärtiger Musikkritik formuliert, den Minimalhorizont, in dem Kritik sich heute zu bewegen hätte. Anders gesagt: Selbst jemand, der keinem einzigen Gedanken zu folgen bereit ist, dürfte es mit Gewinn lesen.

3) Ernst August Klötzke, Faustkultur.de, 24.2.2024

https://faustkultur.de/musik/beim-zerbersten-des-fluegels/

 

4) Nina Noeske, Neue Zeitschrift für Musik, 1/2024:


"Wer die Monografie Christoph Haffters durchgearbeitet hat, hat nicht nur einen umfassenden Überblick insbesondere über das Feld der Gegenwarts(kunst)musik seit etwa 1980 mitsamt den dazugehörigen Traditionen Neuer Musik des gesamten 20.Jahrhunderts gewonnen, sondern auch erfahren, zu welchen Höchstleistungen philosophische Argumentation – zumal wenn sie so differenziert verfährt wie in vorliegendem Buch – in der Lage ist.
In sechs großen Kapiteln, von denen Kapitel II – eine Fallstudie anhand von Simon Steen-Andersens Piano Concerto (2014) – durch seine Arbeit am konkreten Beispiel hervorsticht, unternimmt Haffter nichts Geringeres als den Versuch einer Beantwortung der Frage: «Wie ist Musik heute als Kunst möglich?» (S.9). Ausgehend von der Feststellung einer gegenwärtigen Krise der Kunstmusik – denn diese selbst zweifele «an ihrer eigenen Möglichkeit» (S. 9) –, geht der Autor davon aus, dass ein gelingendes Werk heute «seine eigene Unmöglichkeit austrägt» (S.10).
Die kritische Theorie Theodor W.Adornos zieht sich wie ein roter Faden durch die Arbeit, wird abgewandelt, gegenwärtigen Tendenzen angepasst, anders formuliert, letztlich aber bildet sie – auch in ihrer Positivismuskritik – die implizite oder explizite Folie, mit der, immer wieder auch in kapitalismuskritischer Stoßrichtung, dialektisch argumentiert wird.Ausgegangen wird dabei von einem, wie der Autor es nennt, «ästhetischen Materialismus», dessen Grundannahme vereinfacht lautet, dass menschliches (ästhetisches) Denken, gleichsam materiell, immer von etwas anderem als sich selbst abhängt (S. 13 f.). (Über die Begrifflichkeit lässt sich streiten.)
Die vier Grundbedingungen, die laut Haffter die gegenwärtige Krise der Musik als Kunst ausmachen, lauten: Sprachverlust, Kulturindustrie, elektronischer Klang,Verschränkung der Künste (S. 10).Welche Tradition diesen zugrunde liegt und wie der aktuelle musikalische Diskurs hierauf jeweils reagiert, welche Strategien angewandt werden, um der Krise zu begegnen, wird im dritten Kapitel ausführlich erläutert. Immer wieder konstatiert der Autor für einzelne zeitgemäße kompositorische Ansätze eine implizite Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Wirklichkeiten bzw. Produktionsverhältnissen; Brian Ferneyhoughs algorithmisches Komponieren der 1990er Jahre etwa wird mit der «zeitgleich sich etablierenden Scheinrationalität der Finanzökonomie» in einen Zusammenhang gebracht (S.112) und beinhalte damit «eine Darstellung spätbürgerlicher Desintegration» (S. 112 f.). Das Gelingen jener Werke wiederum, die – wie etwa bei Michael Beil oder Alexander Schubert – mit «automatenhaften Instrumentalgesten» auch im digitalen Medium arbeiten, hänge davon ab, «ob sie in der Negativität dieser Entfremdung so etwas wie ei nen Funken zu schlagen vermögen, der über sie hinausweist, oder ob sie sich letztlich mit der Entfremdung abfinden» (S.340).
Ausführlich widmet sich Haffter am Ende des sechsten Kapitels auch konzeptualistischen Ansätzen seit etwa 2010; auch die These vom «erweiterten» oder «aufgelösten» Musikbegriff (Johannes Kreidler) wird kritisch diskutiert. Kaum ein Argument, das der Autor nicht an Beispielen – etwa von Mark Andre, Gérard Grisey,Georg Friedrich Haas, Clara Iannotta, Johannes Kreidler, Helmut Lachenmann,Trond Reinholdtsen, Rebecca Saunders oder Jennifer Walshe – exemplifiziert: ein Glücksfall, wenn Philosophie derart kenntnisreich von Musik redet.
Während Kapitel 5 («Das Werk als Fragment») eher sichtend verfährt, stecken andere Kapitel voller Pointen – etwa die Kritik in Kapitel 4 an den reinen «Buchführungsanalysen», die sich «zu wenig auf das Werk als Artikulation eines Gedankens einlassen» (S. 204), oder die Kennzeichnung bildungsbürgerlichen Bescheidwissens – auch hier im Fahrwasser Adornos – als «infantile Lust des Wiedererkennens» (S. 77). Die stellenweise notwendige Geduld der Leserin wird immer wieder durch schlagende Beobachtungen und fulminante Analysen belohnt.
Zu hoffen ist auf weitere Untersuchungen dieser Art, die sich dem philosophischen Potenzial der Gegenwartsmusik mittels des ästhetischen Urteils bzw. Kunsturteils widmen, schrittweise erweitert «hin zu einer weltgeschichtlichen Reflexion auf Musik» (S. 11). Dann wäre auch die – zweifellos ebenfalls kunstfähige – Popmusik einzubeziehen."

5) Christian Grüny, Die Musikforschung, Bd. 76 Nr. 4 (2023).

https://doi.org/10.52412/mf.2023.H4

6) Klaus Peter Richter, "Wenn Sie absolut Krach haben wollen, bitte sehr!" (FAZ vom 23.04.2024)